Was ist Tantra – Ritual, Therapie, Selbstoptimierung?
Jean Milburn ist schon ein Charakter für sich. Konfrontativ, anstrengend, speziell-spirituell, aber irgendwie auch echt sexy und stark. Kind of tantrisch. In jeder einzelnen Folge Sex Education habe ich leise Stoßgebete losgeschickt. Bitte lass mich nicht so eine Mutter werden, für die sich meine vielleicht zukünftigen Kinder kategorisch schämen müssen! Aber ich möchte trotzdem Kinder in eine Welt setzen können, in der es nicht schlimm ist, wenn eine Mutter das Haus voll mit Sextoys und Pornoheftchen hat, die Vagina-Workshops gibt und ihre Sexualpatner:innen häufiger wechselt als ihre Meinung zu einer guter Aufklärung.
Ich, als hauptberufliche Tantramasseurin und Mitgründerin des Youngtra-Seminars, ringe manchmal um das Image der Tantramassage im Allgemeinen und mit mir als Sexarbeiterin im Speziellen. Ups, hab ich gerade behauptet, dass Tantramassage Sexarbeit ist? Hier begebe ich mich auf gefährliches Glatteis geteilter Meinungen. Im Ernst, ich sehe das ganz pragmatisch: Ich arbeite mit der Sexualität von Menschen, ergo ist es Sexarbeit. Oder nicht?
Vielleicht mache ich es mir an dieser Stelle ein bisschen zu leicht. Denn alle Klischees über Tantra – machtvolle Friedhofsrituale mit jeder Menge Menstruationsblut, bewusstseinserweiternden Guru-Hippie-Sekten im Streben zum höheren Sein, bezahlter Sex auf dem Latexsofa unter der flackernden Rotlichtlampe oder eine mondäne Form der Sexualtherapie – haben einen Ursprung und somit einen wahren Kern. Die Zeit, sowie diverse kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse haben das Selbstverständnis der Tantramassage zu einem vielschichtigen und undurchsichtigen Gerücht geformt. Viele haben ein vages Gefühl, aber kaum jemand eine konkrete Idee.
Ein (wirklich sehr!) kurzer geschichtlicher Exkurs
Tantra entstand im Indien des frühen Mittelalters als eine esoterische Strömung des Hinduismus. Dieses ursprüngliche Tantra hat nichts mit Massage oder achtsamer Berührung zu tun, so wie wir es heute kennen. Vielmehr ist es ein Kult dunkler Riten. Unter Zuhilfenahme sexual-magischer Kraft werden durch ritualisierten Geschlechtsverkehr, geopfertes Menstruationblut und rezitierten Mantras wenig hehre Ziele verfolgt. Meist geht es um persönliche Machtmaximierung und Reichtum, oder um hereinbrechendes Übel für all die kleinen Arschgeigen, die einem auf dem Wochenmarkt immer die besten Hühner direkt vor der Nase wegschnappen.
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Mitte der 60er prägt der indische Philosoph und Mystiker Osho den Begriff „Tantra“ neu. Er entwickelt eine ganzheitliche Körperarbeit, die Spiritualität mit sinnlich-sexuellen Empfindungen vereint. Dieses „Neo-Tantra“ erfreut sich einer großen Beliebtheit – insbesondere in der westlichen Welt. Osho scharrt eine riesige Gefolgschaft um sich. Er zieht sie mit seinen Ideen von Achtsamkeit, Liebe und Heilung durch dynamische Meditation und (sexuelle) Körperarbeit in seinen Bann. Noch heute ist er als Sexguru bekannt.
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1980 entwickelt Andro in Deutschland, parallel zu Joseph Kramer und Annie Sprinkle in den USA, erstmals das Konzept einer ganzheitlichen, sinnlichen Massage, die den Intimbereich mit einschließt. Wir kennen dieses Konzept heute unter dem Namen „Tantramassage“. Es gibt in Deutschland einige Ausbildungsinstitute, die die Tantramassage in mehrwöchigen Seminaren und intensiven Supervisionsstunden lehren. Sie sind dem Tantramassageverband (TMV) untergeordnet, der am Ende jeder Ausbildung eine zentralisierte Prüfung abnimmt. Dennoch ist die Tantramassage kein geschützter Begriff, weshalb man in den Untiefen des Internets auch leicht mal an eine Mogelpackung geraten kann. Wenn dir jemand dreimal nackt über den Rücken rutscht und es dir danach besorgt, ist das zwar sicher ganz nett, aber keine Tantramassage im Sinne des TMV. Seit 2017 fällt die Massage unter das Prostituiertenschutzgesetz und zählt somit offiziell zur Sexarbeit.
Ende
Das altindische Tantra und die moderne neo-tantrische Massage haben offensichtlich nur noch geringfügig bis gar nichts mehr miteinander zu tun. Bis auf die Tatsache, dass Sexualität eine Rolle spielt und beides als Ritual vollzogen wird, gibt es keine Überschneidungen. Das Wort „Ritual“ mag im Jahr 2022 etwas sperrig daherkommen, doch es ist eines der wichtigsten Eigenschaften der Tantramassage. Es ist praktisch ihr Gütesiegel. Eine Tantramassage mit oder ohne Ritual ist wie der Unterschied bei einer Sprechstunde, in der dir Ärzt:innen zuhören, wenn du deine Symptome beschreibst oder dir nach zwei Halbsätzen wortlos ein Rezept in die Hand drücken – wie der Unterschied zwischen der Frage „Wie geht es dir?“ aus aufrichtigem Interesse oder als hohle Phrase. Wie der Unterschied zwischen einem Snickers oder einem Mars.
Das Ritual in Tantra
Eine Tantramassage ohne Ritual hat einfach keine Nüsse und somit keine Bedeutung. Es geht darum, sich gesehen und gemeint zu fühlen, von der ersten bis zur letzten Berührung, eingebettet in einen klaren Rahmen aus Spielregeln. Die erste Regel des tantrischen Rituals ist: „Ihr verliert kein Wort über die Tantramassage“ Die zweite Regel des tantrischen Rituals ist „Ihr verliert kein…“ Okay, okay ich kürze es ab. Denn es lässt sich wirklich nur schwer in Worte fassen, wie so ein tantrisches Massageritual aussieht. Man muss es spüren. Aber soviel kann ich verraten: Eine Person massiert, die andere empfängt. Es gibt keinen gemeinsamen Austausch von Berührungen. Beide sind nackt. Nach bestem Wissen und Gewissen geschieht alles im Konsens. Alles am Körper wird sehr langsam und ausführlich berührt (vorausgesetzt es ist gewünscht). Eine Tantramassage beginnt bei anderthalb Stunden und kann gut und gerne vier Stunden dauern.
Unsere Autorin Hanna ist für uns auf ein Tantra-Seminar gegangen – was sie dort erwartet hat, liest du hier.
Tantra als Therapie?
Es passiert nicht selten, dass die Intensität der erfahrenen Zuwendung kleine Gefühlslawinen bei der massierten Person auslöst. Deshalb steht die Auffassung der Massage als Sexarbeit aktuell eng im Schulterschluss mit der Idee der Massage als therapeutische Heilkunde. Manche Menschen sprechen gar von einer tantrischen Behandlung. Ich persönlich stehe dieser Auffassung eher skeptisch gegenüber. Die Tantramassage birgt fraglos großes Potential innere Prozesse anzustupsen. Aber deshalb sind noch lange nicht alle Tantramasseur:innen traumasensitiv geschult. Und Obacht: Als sexuell traumatisierter Mensch kann man auch in einer Tantramassage eine Retraumatisierung erleben. Ich möchte an dieser Stelle niemandem davon abraten eine Tantramassage auszuprobieren, der von so einem Trauma betroffen ist, aber ich möchte es genauso wenig empfehlen.
Tantra als Selbstoptimierung?
Wenn man mich fragt, würde ich sagen, die Tantramassage ist nicht mehr und nicht weniger als die Lehre der (guten) Berührung. Jemanden über seinen Körper hinaus zu berühren, setzt weit mehr voraus als eine gelernte Massagetechnik. Es braucht eine innere Haltung, die sich wohl am besten mit „Achtsamkeit“ titulieren lässt, auch wenn dieser Begriff inzwischen etwas abgedroschen klingen mag. Wenn ich einem Menschen mit meiner ungeteilten Aufmerksamkeit begegne und meine Hände voller Neugier und Wohlwollen seinen Körper erforschen, dann beginnt der Moment, ganz aus sich selbst heraus, zu zaubern. Für diese Magie braucht es keine Friedhöfe, kein Räucherwerk oder erleuchtete Gurus. Dafür braucht es lediglich zwei (oder mehr) Menschen, einen wachsamen, liebevollen Blick, Zeit und Konsens… okay, ich gebe zu, ‘a little bit of candlelight’ und verbrannter Salbei geben der Sache einfach ein wenig mehr Pep.
Wenn ich jemanden massiere, dann versuche ich dabei, kein Ziel zu verfolgen. Ich ziehe mit meiner Berührung sanft die Konturen nach, von dem, was da ist. Lust, Sinnlichkeit, Entspannung, Dankbarkeit, Spieltrieb, Trauer, Geborgenheit… es darf in Orgasmen, in Tränen, in Lachen, in Verwirrung oder im Schnarchen enden – alles schön, alles erlaubt. Aber diese innere Haltung – nichts zu wollen, nichts zu bezwecken oder erreichen zu müssen – das ist ungefähr null salonfähig in unserem Zeitalter der ständigen Selbstoptimierung, der inneren Selbstsezierung und der äußeren Selbstinszenierung. Ironischerweise ist die Achtsamkeit der Selbstoptimierung inzwischen schon längst zum Opfer gefallen: Nichts wollen, um ein besserer Mensch zu sein, lol. Und ich wäre eine schlechte Tantramasseurin, wenn ich nicht wahrnehmen würde, dass auch ich immer wieder in diese Falle tappe. Aber ja, mei! Durchatmen, annehmen, ‘rinse, repeat’.
Ich liebe, gebe und lehre die Tantramassage. Ich möchte Räume schaffen, in denen Menschen den Mut haben, sich unbefangen, neugierig und verspielt sexuell zu begegnen. Räume, in denen man sich angstfrei berühren kann, weil es eine Einigung darüber gibt, dass „Stop!“ ein vollständiger Satz ist. Räume, in denen man lernt, über Bedürfnisse und Grenzen zu sprechen. Wo man sich erlauben kann, weich und hingebungsvoll, stark und wild, unbequem und zart zu sein. Räume, in denen klar ist, dass sich Lust nicht nur unterhalb der Gürtellinie abspielt. Dass Sexualität bei jedem Menschen individuell und komplex ist und die Klitoris eben nicht nur 5 Millimeter rosa Vergnügen zwischen den Vulvalippen.
Von mir aus darf man das Ganze gern als Sexarbeit labeln. Zumindest, wenn Sexarbeit bedeutet, Menschen neue Wege zu zeigen, wie sie sich selbst als lust- und wertvoll ansehen. Dass sie über den Schoßraum hinaus sinnlich und erregbar sind. Dass sie schamfrei kommunizieren können, was sie sich wünschen.
Und wer weiß, vielleicht bin ich irgendwann gleichzeitig eine Sexworker:in und eine coole Mutter.
Wer jetzt neugierig geworden ist und mehr zum Youngtra-Seminar oder der Tantramassage erfahren möchte, kann gerne einmal hier oder hier vorbeischauen.
Was Johanna sagt:
"Mit meinen damals zarten 24 Jahren habe ich die Massage keinen Tag zu früh für mich entdeckt. Aber es hat mich durchaus Überwindung und Mut gekostet, an einem Seminar teilzunehmen, in dem ich möglicherweise nicht nur meiner eigenen sexuellen Potenz begegne, sondern auch Menschen, die meine Eltern hätten sein können. Deshalb habe ich mit Christoph und Madlen das Youngtra-Seminar gegründet – ein 4-tägiges Seminar, bei dem jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren die Tantramassage lernen und sich mit gleichaltrigen unbefangen, ehrlich und tief über Sexualität austauschen können."