Konsens ist sexy – ein Interview mit Autorin Nadine Primo
Im Interview mit nevernot verrät sie, warum es so schwierig ist für sich selbst und das was man will einzustehen – und wie man es trotzdem schaffen kann.
Nadine Primo lebt in Berlin und ist selbstständig als freie Autorin, Redakteurin und Content Creatorin tätig. Als Vertreterin der queeren Community teilt sie auf ihrem Blog und Instagram persönliche Erlebnisse aus ihrem Alltag als bisexuelle Frau und macht auf anhaltende Ungerechtigkeiten im Patriarchat sowie mentale Gesundheit, allen voran Depressionen, aufmerksam.
Kathi von nevernot: Warum hast du angefangen, dich so intensiv mit dem Thema Konsens zu beschäftigen? Was war dein persönlicher Bezug dazu?
Nadine Primo: Ich habe einfach über die Jahre gemerkt, wie oft es an der Kommunikation scheitert bzw. daran, dass nicht alle gehört werden. Sei es jetzt im Beziehungskontext, im Alltag, auf der Arbeit oder im Bett. Häufig denken wir, dass wir sagen was wir brauchen, aber letztlich kommt nicht das an, was wir ausdrücken wollen. Das liegt zum einen daran, dass viele sich ihrer Grenzen nicht bewusst sind. Stichwort: Fremdbestimmtheit. Wenn wir beispielsweise an Beziehungskonzepte denken. Wie viele Menschen leben in monogamen Beziehungen, weil sie glauben, dass sei das einzig richtige Beziehungsmodell? Ich selbst als bisexuelle Frau habe sowohl homo- als auch heterosexuelle Datingerfahrungen gemacht und dadurch verschiedene Dating-Dynamiken kennengelernt. Dabei habe ich gemerkt, wie sehr auch ich noch von konservativen Datingvorstellungen geprägt bin. Das war mein Startschuss dafür, über das Thema Einvernehmlichkeit sprechen zu wollen.
Kathi von nevernot: Du hast gerade gesagt, dass ein wichtiger Punkt beim Thema Konsens das Verstehen der eigenen Grenzen ist. Wie schafft man es deiner Erfahrung nach einen besseren Selbstzugang zu haben und die eigenen Grenzen zu erkennen?
Nadine Primo: Da gibt es nicht den einen pauschalen Rat. Jeder Mensch ist anders sozialisiert und kommuniziert anders. Das bringt eine eigene Perspektive aufs Leben und eigene Erfahrungen mit sich. Letztlich finde ich es ganz hilfreich, wenn man sich hinsetzt und bewusst überlegt: Was entscheide ich am Ende des Tages selbst? Sind es meine Grenzen, die ich setze oder gehe ich dem nach, was mir vorgelebt wird? Das gilt bei der Partner:innenwahl ebenso wie bei der Beziehungsform, die ich eingehe. Oft sind wir im Autopilot. Um die eigenen Grenzen kennenzulernen, muss man sie auch mal austesten. Natürlich macht man dabei vielleicht mal eine negative Erfahrung, aber auch schlechte Erfahrungen helfen uns dabei zu wachsen. Ich habe beispielsweise eine Zeitlang in einer offenen Beziehung gelebt, weil das monogame Modell für mich nicht gepasst hat. Aber auch innerhalb dieses offenen Konzepts habe ich gelernt, dass ich Grenzen habe. Polyamorie hat für mich persönlich nicht funktioniert. Das ist ein tolles Ziel, aber ich habe da für mich gemerkt, das ist nicht meins. Früher war ich auch überzeugt, dass die BDSM-Szene meine Szene ist. Nach ein bisschen experimentieren hab ich dann festgestellt, dass ich es nur bis zu einem bestimmten Punkt geil finde. Da ist es natürlich wichtig, dass man sich mit Menschen ausprobiert, denen man vertraut, dass man ein gutes Setting hat und sich sicher fühlt.
Kathi von nevernot: Denkst du, neben der Sozialisierung spielt auch Druck eine Rolle? Gerade bei Themen wie BDSM, offener Beziehung & Co herrscht gefühlt auch eine hohe Erwartungshaltung, eine gewisse Grenzenlosigkeit, die vor allem Frauen abschreckt. Und das geht oft mit übergriffigem Verhalten einher, wenn man anfängt, sich in diesen Bereichen auszuprobieren.
Nadine Primo: Das stimmt. Gerade auf kinky Datingplattformen passt der Ton manchmal nicht. Da schwingen schnell viele Erwartungen mit und es gibt wenige Grenzen. In solchen Situationen ist es wichtig für sich einzustehen und klar zu sagen: Das passt mir gerade nicht, das geht zu weit. Aber da sind wir dann auch wieder bei den konservativen Rollenbildern. Gerade Frauen fällt es oft schwer, das auszusprechen. Da sehe ich vor allem Vorbilder, vor allem Erziehungsvorbilder, in der Verantwortung. Eltern müssen ihren Töchtern beibringen, wehrhaft zu sein, für sich einzustehen und eben nicht das devote Mädchen zu sein, das es allen recht machen will. Da spielt auch Aufklärung mit rein. Weibliche Lust muss mehr in den Fokus gerückt werden. Da passiert zwar schon etwas, aber die Entwicklung ist recht langsam. Es gibt mehr Bücher über weibliche Lust, mehr Diskurs. Das wird über die Zeit etwas verändern. Und diese Veränderung brauchen wir.
Kathi von nevernot: Was macht man denn, wenn man als Frau feststellt – und es betrifft, wie du gesagt hast, aufgrund der unterschiedlichen Sozialisierung ja besonders viele Frauen – dass einem die eigene Erziehung in Sachen Konsens negative Dinge mitgegeben hat? Dass man sich nicht richtig traut, offen zu kommunizieren?
Nadine Primo: Häufig scheitert offene Kommunikation an Angst vor Ablehnung. Da sollte man sich bewusst machen: Wenn ich Angst habe, abgelehnt zu werden, nur weil ich meine Bedürfnisse kommuniziere, dann liegt das Problem woanders. Dann sollte ich mir überlegen, ob meine Partner:in der / die Richtige ist. Denn eigentlich sollte diese Person mein Bestes wollen. Wenn ich schon Angst habe, ignoriert oder abgelehnt zu werden, wenn ich Dinge kommuniziere wie "heute Abend habe ich keine Lust auf Analsex", wenn das eine denkbare Konsequenz ist, dann sollte man lieber die Beziehung verlassen. Wir müssen uns mehr bewusst machen, dass wir so behandelt werden möchten, wie wir andere auch behandeln. Ein Mensch, der viel Angst vor Ablehnung hat, versucht oft es anderen besonders recht zu machen.
Kathi von nevernot: Wie gehst du im Umkehrschluss damit um, wenn ein:e Partner:in auf dich zukommt und dir mitteilt, dass er / sie sich in einer Situation mit dir unwohl gefühlt hat? Dass eine Grenze, vielleicht auch beim gemeinsamen Ausprobieren, überschritten wurde?
Nadine Primo: Früher habe ich das als persönliche Kritik aufgefasst. Nach dem Motto: Du hast etwas falsch gemacht, du hast mich schlecht behandelt. Mittlerweile sehe ich das eher als Kompliment, dass meine Partner:in mir genug vertraut, um mir das zu kommunizieren. Ich bedanke mich dann für die Offenheit. Genauso wie ich möchte, dass mein:e Partner:in meine Grenzen akzeptiert, muss ich auch bereit sein, seine / ihre Grenzen zu akzeptieren. Das darf man nicht persönlich nehmen. Es ist eher wichtig zu fragen: Was kann ich das nächste Mal anders und besser machen?
Kathi von nevernot: Da gibt es ja über die rein verbale Kommunikation auch viele andere Modelle für Konsens, die man mit dem / der Partner:in abmachen kann. Vom Ampelsystem oder Safeword aus dem BDSM-Bereich bis hin zum Erklären der eigenen Körpersprache. Präsent sein im Moment scheint da ebenso wichtig zu sein, wie das Abklären der Grenzen im Vorhinein.
Nadine Primo: Ganz genau. Denn Einverständnis kann sich jederzeit auch ändern. Man sollte immer wieder fragen, ob alles ok ist und auch auf körperliche Signale achten. Wenn ich merke, jemand verkrampft sich, fängt an zu zittern, zu schwitzen oder Ähnliches, dann kann ich einfach nachfragen, was los ist. Lieber häufiger fragen, als einmal zu wenig. Sonst gibt es hinterher viel zu reden oder miese Erfahrungen.
Kathi von nevernot: Und wie macht man das Ganze dann sexy?
Nadine Primo: Ich sag ganz ehrlich, so Konsens-Talk ist für mich eine softe Version von Dirty Talk. Wie sexy ist das, wenn du mit jemandem auf dem Sofa sitzt, ihr euch näher kommt und du dann sagst: "Du bist so sexy, ich würde dich gerne küssen". Was ist geiler als jemandem respektvoll zu sagen, was man gerne mit ihr / ihm machen würde? Das ist alles eine Frage der Kommunikation, eine Frage des "Wie".
Kathi von nevernot: Wie haben sich denn deine Beziehungen und sexuellen Begegnungen verändert, als du angefangen hast, das Thema Konsens auch so zu leben, wie du es beschreibst?
Nadine Primo: Sie sind weitaus authentischer geworden. Ich bin ein krasser Kopf-Mensch und ich muss sagen, dass ich früher häufig Begegnungen hatte, nach denen ich ewig im Bett lag mit Gedankenkreisen. Ich hab mich gefragt: Wie hat er oder sie das jetzt genau gemeint? Warum hab ich nicht einfach gefragt? Dann fängt man an, komische Nachrichten zu schreiben wo ganz viel zwischen den Zeilen steht. Wo es viel Raum für Interpretationen gibt. Die Anzahl der Menschen, mit denen ich Verbindungen eingehe oder mit denen ich am Ende des Tages im Bett lande, hat sich verringert. Dafür hat sich die Qualität der Beziehungen, die ich führe, egal auf welcher Ebene, extrem verbessert. Und ich bekomme auch oft das Feedback, dass Leute meine Ehrlichkeit wertschätzen. Dass ich sage was ich will, was ich brauche, aber eben auch was ich nicht will. Das macht zwischenmenschliche Beziehungen am Ende einfacher und das gilt für alle.
Kathi von nevernot: Es ist auch ein Trugschluss, dass man dem /der Partner:in in den Kopf schauen kann, auch und gerade wenn man sich schon länger kennt. Ich habe den Eindruck, dass auch viele Paare, die schon lange zusammen sind, eigentlich gar nicht richtig wissen, worauf der andere steht, was seine / ihre Bedürfnisse sind. Es wird zu wenig kommuniziert und nachgefragt.
Nadine Primo: Ja, und Bedürfnisse ändern sich auch. Ich bin nicht zwangsläufig der gleiche Mensch an Tag eins und an Tag 365 der Beziehung. Deshalb empfinde ich es als extrem respektvoll, immer wieder nachzufragen. Das zeigt ja: Mein:e Partner:in hat wirklich Interesse an mir und interessiert wie es mir geht und was ich möchte. Oft wird behauptet, dass das Nachfragen und Konsens einholen die Spannung aus der Beziehung nimmt. Die Realität ist: Es nimmt die Anspannung raus. Und das ist gut so, denn Beziehungen sollten nicht angestrengt sein.
Kathi von nevernot: Das ist natürlich auch eine gesellschaftspolitische Frage. Wie empfindest du gerade den öffentlichen Diskurs um das Thema Konsens? Wo stehen wir in der Debatte? Beim aktuellen Beispiel Rammstein geht es beispielsweise auch um ungleiche Machtverhältnisse und darum, wie die sich auswirken, wenn es um Konsens geht.
Nadine Primo: Gerade Fälle wie Rammstein finde ich immer wieder erschreckend, weil sie mich aus meiner 'Bubble' rausholen. Denn das, was für mich und mein Umfeld mittlerweile selbstverständlich ist, ist es noch lange nicht für ganz Deutschland. Das zeigt eben: Gesellschaftlicher Wandel braucht seine Zeit. Umso wichtiger ist es, dass wir jetzt laut sind und das Thema Konsens immer wieder auf die Agenda bringen. Und das ist nicht nur eine Aufgabe von uns Frauen. Wir brauchen viel mehr Männer, die sich dafür stark machen. Denn am Ende leiden nicht nur wir unter der Situation, sondern auch die Männer. Stichwort toxische Männlichkeit. Wir müssen gemeinsam daran arbeiten, dass mehr gegenseitiges Verständnis und Wohlwollen in der Gesellschaft herrscht.
Kathi von nevernot: Um unser Gespräch positiv abzuschließen: Was würdest du dir denn für die Zukunft wünschen?
Nadine Primo: Ich würde mir wünschen, dass wir alle mehr miteinander reden. Dass wir uns wirklich zuhören und aufhören, einander die Grenzen abzusprechen oder anderen unsere Grenzen aufzudrücken. Dass wir echtes Interesse daran entwickeln, andere zu verstehen. Bevor wir anfangen, unsere eigenen Unsicherheiten, Ängste oder moralischen Verfehlungen auf andere Menschen zu projizieren, sollten wir versuchen zu verstehen, dass jeder Mensch eigenständig ist und eine ganz eigene Perspektive mit sich bringt. Das geht über das Zuhören. Dann haben es auch Menschen leichter, die jetzt noch Probleme haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu kommunizieren.
Kathi von nevernot: Ein tolles Schlusswort, Nadine. Danke dir für das Gespräch!